* 15 *

»Onkel Alther!«, rief Jenna freudig, sprang die Böschung hinunter und lief zu ihm. Er stand am Strand und betrachtete verwundert die Angel in seiner Hand.
»Prinzessin!« Freudestrahlend nahm er sie in seine Geisterarme, und wie immer hatte Jenna dabei das Gefühl, eine Sommerbrise wehe durch sie hindurch.
»Ja, ja«, sagte Alther, »als Junge bin ich oft zum Angeln hierher gekommen, und wie es aussieht, habe ich auch die Angelrute mitgebracht. Ich hoffte, euch hier zu finden.«
Jenna lachte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Onkel Alther jemals ein Junge gewesen war.
»Kommst du mit uns, Onkel Alther?«, fragte sie.
»Bedaure, Prinzessin, das geht nicht. Du kennst doch die Regeln des Geisterlebens:
WO DU IM LEBEN SCHON MAL WARST.
Und leider bin ich als Junge nie weiter als bis zu diesem Strand hier gekommen. Hier gab es einfach zu viele Fische herauszuholen, verstehst du? Aber«, sagte er, das Thema wechselnd, »ist das ein Picknickkorb, was ich da im Boot sehe?«
Unter einer nassen Taurolle stand der Picknickkorb, den Sally Mullin ihnen mitgegeben hatte. Silas wuchtete ihn heraus.
»Autsch, mein Rücken«, stöhnte er. »Was hat sie denn da alles reingepackt?« Silas hob den Deckel. »Oh, kein Wunder«, seufzte er. »Randvoll mit Gerstenkuchen. Na, wenigstens hat er einen guten Ballast abgegeben, was?«
»Dad!«, protestierte Jenna. »Sei nicht so gemein. Also, wir mögen Gerstenkuchen, stimmt’s, Nicko?«
Nicko verzog das Gesicht, aber Junge 412 blickte hoffnungsvoll. Etwas zu essen! Er hatte einen Bärenhunger – er konnte sich nicht mal mehr erinnern, was er als Letztes gegessen hatte. Ach ja, jetzt fiel es ihm wieder ein, einen Teller kalter, klumpiger Hafergrütze, heute Morgen um sechs, kurz vor dem Frühappell.
Silas zog die restlichen, leicht zerdrückten Sachen, die unter dem Kuchen lagen, hervor. Eine Zunderbüchse und trockenes Anmachholz, eine Blechkanne, etwas Schokolade, Zucker und Milch. Er entzündete ein kleines Feuer, füllte die Kanne mit Wasser und hängte sie darüber, um das Wasser zum Kochen bringen. Die anderen drängten sich um die Flammen, wärmten sich die kalten Hände und kauten auf den großen Kuchenstücken herum.
Selbst Marcia aß fast ein ganzes Stück, obwohl bekannt war, dass Gerstenkuchen gern zwischen den Zähnen kleben blieb. Junge 412 schlang seine Portion hinunter und verputzte obendrein alles, was die anderen übrig ließen. Anschließend warf er sich in den feuchten Sand und fragte sich, ob er jemals wieder auf die Beine kommen würde. Er hatte das Gefühl, als hätte jemand Beton in ihn hineingegossen.
Jenna fasste in ihre Tasche und holte Petroc Trelawney heraus. Er lag still und reglos in ihrer Hand. Sie streichelte ihn sanft, und Petroc streckte seine vier Stummelbeine von sich und strampelte damit hilflos in der Luft. Er lag auf dem Rücken wie ein verunglückter Käfer.
»Hoppla, falsch herum«, kicherte Jenna und setzte ihn richtig herum hin. Petroc Trelawney öffnete die Augen und blinzelte träge.
Jenna klebte einen Krümel Gerstenkuchen an ihren Daumen und hielt ihn dem Steintier hin.
Petroc Trelawney blinzelte abermals, sann über den Gerstenkuchen nach und knabberte dann vorsichtig an dem Krümel. Jenna war begeistert.
»Er frisst ihn!«, rief sie.
»Na klar«, sagte Nicko, »Steinkuchen für ein Steintier. Perfekt.«
Doch selbst Petroc Trelawney brachte nicht mehr runter als einen großen Krümel. Er schaute noch ein paar Minuten gemütlich um sich, dann schloss er die Augen und schlief in Jennas warmer Hand wieder ein.
Bald kochte das Wasser in der Kanne über dem Feuer. Silas brachte darin die Bitterschokolade zum Schmelzen und goss Milch dazu. Es war die Mischung, die ihm am besten schmeckte, und als sie überkochen wollte, schüttete er Zucker dazu und rührte um.
»Die beste heiße Schokolade aller Zeiten«, behauptete Nicko, und keiner widersprach ihm, als die Kanne herumging und allzu schnell leer war.
Unterdessen hatte Alther mit der Angelrute an seiner Wurftechnik gefeilt, und als er sah, dass die anderen fertig gegessen hatten, schwebte er ans Feuer. Er machte ein ernstes Gesicht.
»Nach eurer Flucht ist etwas passiert«, sagte er leise.
Silas bekam Magendrücken, und das lag nicht nur am Gerstenkuchen. Er hatte Angst.
»Was ist geschehen, Alther?«, fragte er in der schrecklichen Gewissheit, dass Sarah und die Jungen gefangen genommen worden waren.
Alther las seine Gedanken. »Das ist es nicht, Silas. Sarah und die Jungen sind wohlauf. Trotzdem ist es sehr schlimm. DomDaniel ist in die Burg zurückgekehrt.«
»Was?«, rief Marcia. »Er kann nicht zurückkommen. Ich bin die Außergewöhnliche Zauberin – ich habe das Amulett. Und der Turm ist voll mit Zauberern. Im Turm steckt genug Magie, um diesen abgehalfterten Hexenmeister in die Ödlande zurückzujagen, wo er hingehört. Bist du sicher, dass er zurück ist, oder ist das nur wieder so ein Scherz, den sich der Oberste Wächter, diese eklige kleine Ratte, in meiner Abwesenheit erlaubt?«
»Es ist kein Scherz«, sagte Alther. »Ich habe ihn mit eigenen Augen gesehen. Kaum war die Muriel hinter dem Rabenstein verschwunden, hat er sich im Hof des Zaubererturms materialisiert. Die ganze Gegend hat vor schwarzer Magie geknistert. Und es hat bestialisch gestunken. Die Zauberer gerieten in Panik und stoben in alle Richtungen auseinander wie Ameisen, wenn man in ihren Haufen tritt.«
»Welch eine Schande!«, rief Marcia. »Wie konnten sie nur? Also ich weiß nicht, aber das Niveau der Durchschnittszauberer ist heutzutage doch erschreckend.« Sie streifte Silas mit einem Blick. »Und wo war Endor? Sie ist doch meine Stellvertreterin. Jetzt sag nicht, auch Endor hat den Kopf verloren.«
»Nein, sie nicht. Sie kam heraus und trat ihm entgegen. Sie verriegelte mit einem Zauber die Tür.«
»Na, Gott sei Dank«, seufzte Marcia erleichtert. »Der Turm ist sicher.«
»Mitnichten, Marcia. DomDaniel hat Endor mit einem Feuerblitz niedergestreckt. Sie ist tot.« Alther machte einen besonders komplizierten Knoten in seine Angelschnur. »Es tut mir Leid.«
»Tot«, hauchte Marcia.
»Dann hat er die Zauberer abführen lassen.«
»Alle? Wohin?«
»Sie wurden alle in die Ödlande gebracht. Sie konnten nichts dagegen machen. Ich nehme an, er hat sie dort in eine Höhle gesperrt.«
»Oh, Alther!«
»Dann erschien der Oberste Wächter, dieser Giftzwerg, mit seinem Gefolge und scharwenzelte um ihn herum. Er himmelt seinen Herrn und Meister förmlich an. Er begleitete DomDaniel in den Zaubererturm und hinauf ... äh ... hinauf in deine Gemächer, Marcia.«
»In meine Gemächer? DomDaniel in meinen Gemächern?«
»Nun, du wirst mit Freuden vernehmen, dass er, als er endlich oben ankam, nicht mehr fit genug war, um sich an ihnen zu freuen, denn er musste alle Etagen zu Fuß erklimmen. Es war nicht mehr genug Zauberkraft da, um die Treppe in Betrieb zu halten. Oder irgendetwas anderes im Turm.«
Marcia schüttelte fassungslos den Kopf. »Ich hätte nie gedacht, dass DomDaniel dazu in der Lage wäre. Niemals.«
»Ich auch nicht«, gab Alther zu.
»Ich dachte«, fuhr Marcia fort, »wir Zauberer könnten uns behaupten, bis die Prinzessin alt genug wäre, um die Krone zu tragen. Dann hätten wir uns von den Wächtern, der Jungarmee und all den dunklen Kräften befreit, die die Burg unsicher machen und den Menschen die Freude am Leben nehmen.«
»Ich auch«, erwiderte Alther. »Aber ich bin DomDaniel auf der Treppe gefolgt. Er hat ununterbrochen mit dem Obersten Wächter geschwatzt. Er konnte sein Glück nicht fassen. Du hättest nicht nur die Burg verlassen, sagte er, sondern obendrein auch noch das einzige Hindernis beseitigt, das seiner Rückkehr im Wege gestanden hätte.«
»Was für ein Hindernis?«
»Jenna.«
Jenna sah Alther bestürzt an. »Ich? Ein Hindernis? Was hat das zu bedeuten?«
Alther starrte nachdenklich ins Feuer. »Wie es scheint, Prinzessin, hast du diesen grässlichen alten Schwarzkünstler daran gehindert, ins Schloss zurückzukehren. Durch deine bloße Anwesenheit. Wie höchstwahrscheinlich auch deine Mutter. Ich habe mich immer gefragt, warum er die Meuchelmörderin zur Königin geschickt hat und nicht zu mir.«
Jenna erschauderte. Sie bekam große Angst. Silas legte den Arm um sie. »Das reicht, Alther. Du brauchst uns nicht zu Tode zu erschrecken. Ehrlich gesagt glaube ich, du bist nur eingeschlafen und hast einen Albtraum gehabt. Du weißt, dass du hin und weder einen hast. Die Wächter sind nichts weiter als eine Verbrecherbande, die jeder anständige Außergewöhnliche Zauberer schon vor Jahren verjagt hätte.«
»Ich habe es nicht nötig, mich von dir beleidigen zu lassen«, rief Marcia entrüstet. »Du hast ja keine Ahnung, was wir alles versucht haben, um uns ihrer zu entledigen. Nicht die leiseste Ahnung. Und von dir haben wir keine Hilfe bekommen, Silas Heap.«
»Ich weiß gar nicht, was die ganze Aufregung soll«, entgegnete Silas. »DomDaniel ist tot.«
»Nein, ist er nicht«, widersprach Marcia, wieder ruhiger.
»Sei nicht albern«, fuhr Silas sie an. »Alther hat ihn vor vierzig Jahren von der Spitze des Turms gestoßen.«
Jenna und Nicko stockte der Atem. »Ist das wahr, Onkel Alther?«, fragte Jenna.
»Nein!«, rief Alther erbost. »Es ist nicht wahr. Er ist von selbst gesprungen.«
»Wie auch immer«, sagte Silas stur, »jedenfalls ist er tot.«
»Nicht unbedingt ...«, widersprach Alther leise und blickte ins Feuer. Der Feuerschein warf tanzende Schatten auf alle Anwesenden außer Alther, der gedankenversunken durch die Flammen schwebte und dabei versuchte, den Knoten zu lösen, den er vorhin in seine Angelschnur gemacht hatte. Das Feuer loderte kurz auf und erhellte die Menschen, die es umringten. Da ergriff Jenna das Wort.
»Was ist oben auf dem Turm mit DomDaniel geschehen, Onkel Alther?«, fragte sie.
»Das ist eine ziemlich schaurige Geschichte, Prinzessin. Ich möchte dir keine Angst machen.«
»Oh, bitte, erzähl sie uns«, bettelte Nicko. »Jen liebt Schauergeschichten.«
Jenna nickte etwas zaghaft.
»Nun«, sagte Alther, »es fällt mir schwer, sie in meinen eigenen Worten wiederzugeben, aber ich erzähle euch die Geschichte so, wie ich sie einmal an einem Lagerfeuer tief in den Wäldern gehört habe. Es war eine Nacht wie heute, Mitternacht. Der Vollmond stand hoch am Himmel, und eine alte und weise Wendron-Hexenmutter erzählte sie ihren Hexen.«
Im nächsten Augenblick verwandelte sich Alther Mella in eine wohlbeleibte und freundlich aussehende Frau in einem grünen Kleid. Im trägen schnarrenden Tonfall der Waldbewohner fuhr er fort:
»Die Geschichte beginnt auf der Spitze einer goldenen Pyramide, die einen hohen silbernen Turm bekrönt. Der Zaubererturm schimmert in der Morgensonne und ist so hoch, dass die vielen Menschen, die sich zu seinen Füßen versammelt haben, dem jungen Mann, der die abgestufte Seite der Pyramide erklimmt, wie Ameisen vorkommen. Der junge Mann hat schon einmal in die Tiefe zu den Ameisen geblickt, und die Höhe hat ihn schwindlig gemacht. Jetzt heftet er seinen Blick auf die Gestalt vor ihm, einen älteren, aber noch sehr gelenkigen Mann, der, und das ist sein großer Vorteil, nicht unter Höhenangst leidet. Der lila Umhang des Älteren flattert im scharfen Wind, der wie immer den Turm umweht, und für die Menge am Boden sieht er aus wie eine lila Fledermaus, die hoch zur Spitze der Pyramide flattert.
Was, so fragen sich die Zuschauer, hat ihr Außergewöhnlicher Zauberer im Sinn? Und ist das nicht sein Lehrling, der ihm folgt? Oder verfolgt er ihn gar?
Dann ist der Lehrling, Alther Mella, dicht hinter seinem Meister, DomDaniel. DomDaniel hat die Spitze der Pyramide erreicht, eine kleine quadratische Plattform aus getriebenem Gold mit eingelegten Hieroglyphen aus Silber, die den Turm verzaubern. Er steht mit wehendem Umhang aufrecht da, und sein Gürtel aus Gold und Platin, der Gürtel des Außergewöhnlichen Zauberers, glitzert in der Sonne. Er winkt seinen Lehrling zu sich.
Alther Mella weiß, dass er keine Wahl hat. Mit einem beherzten Sprung stürzt er sich auf den Meister und reißt ihn zu Boden. Er greift nach dem Echnaton-Amulett aus Gold und Lapislazuli, das der Meister an einer Silberkette um den Hals trägt.
Die Zuschauer im Hof halten den Atem an. Bestürzt blinzeln sie zu dem blendenden Gold der Pyramide hinauf und beobachten, wie der Lehrling mit seinem Meister ringt, wie die beiden sich auf der kleinen Plattform mal hierhin, mal dorthin wälzen und wie der Meister das Amulett dem Griff des Lehrlings zu entwinden sucht.
DomDaniel starrt Alther Mella hasserfüllt an, seine dunkelgrünen Augen funkeln vor Zorn. Althers hellgrüne Augen erwidern seinen Blick unerschrocken, und er spürt, wie das Amulett sich lockert. Er zieht mit aller Kraft, die Kette zerreißt in hundert Stücke, und er hält das Amulett in der Hand.
›Behalt es‹, zischt DomDaniel. »Aber ich werde zurückkommen und es mir holen. Ich werde mit dem Siebten des Siebten kommen.«
Die Menge schreit auf, als der Außergewöhnliche Zauberer von der Spitze der Pyramide springt und in die Tiefe stürzt. Sein Umhang breitet sich aus wie ein Paar herrliche Schwingen, vermag aber den Sturz nicht zu bremsen.
Und dann ist er verschwunden.
Auf der Spitze der Pyramide steht der Lehrling mit dem Echnaton-Amulett in der Hand und starrt entsetzt in die Tiefe ... sein Meister ist in die Unterwelt hinabgestiegen.
Die Menge drängt sich um die Stelle, wo DomDaniel aufgeschlagen ist. Der Boden ist versengt, jeder hat etwas anderes gesehen. Einer sagt, DomDaniel hätte sich in eine Fledermaus verwandelt und sei davongeflogen. Ein anderer will beobachtet haben, wie ein Rappe erschien und in den Wald galoppierte, und wieder andere behaupten, DomDaniel hätte sich in eine Schlange verwandelt und sei unter einen Stein gekrochen. Aber keiner hat gesehen, was wirklich geschehen ist. Keiner hat gesehen, was Alther gesehen hat.
Mit geschlossenen Augen, um nicht in den gähnenden Abgrund blicken zu müssen, klettert Alther Mella von der Pyramide. Er öffnete sie erst wieder, als er durch die schmale Luke in die Bibliothek kriecht, die in der goldenen Pyramide untergebracht ist. Und dort sieht er mit Schrecken, was geschehen ist. Die schlichte grüne Wollkleidung, die er als Zauberlehrling trägt, hat sich in dicke lila Seide verwandelt. Der einfache Ledergürtel an seiner Taille ist mit einem Mal auffallend schwer. Er ist jetzt aus Gold und hat Intarsien aus Platin, die Geheimzeichen und Zauberformeln darstellen. Sie verleihen dem Außergewöhnlichen Zauberer, der Alther zu seinem Erstaunen nun geworden ist, Schutz und Stärke.
Alther betrachtet das Amulett in seiner zitternden Hand. Es ist ein kleiner runder Stein aus ultramarinblauem, mit goldenen Streifen durchzogenem Lapislazuli, in den ein magisches Zeichen in Form eines Drachen eingeritzt ist. Der Stein liegt schwer in seiner Hand. Er ist in einen goldenen Ring eingefasst, der oben so zusammengekniffen ist, dass er eine Öse bildet. An dieser Öse hängt noch ein Glied der Silberkette, die zersprungen ist, als er das Amulett abgerissen hat.
Nach kurzem Überlegen bückt er sich und löst den Lederschnürsenkel von seinem Stiefel. Er befestigt das Amulett daran und hängt es sich um den Hals, wie es alle Außergewöhnlichen Zauberer vor ihm getan haben. Und dann macht er sich an den langen Abstieg durch den Turm, das lange braune Haar noch zerzaust vom Kampf, das Gesicht bleich und ängstlich, die grünen Augen groß vor ehrfürchtigem Staunen, um vor die wartende Menge zu treten.
Ein Aufschrei empfängt Alther, als er durch die große, massive Silbertür taumelt, die den Eingang zum Zaubererturm bewacht. Es fällt kein Wort, denn man streitet nicht mit einem neuen Außergewöhnlichen Zauberer. Unter vereinzeltem leisem Murren zerstreut sich die Menge, und nur eine einzige Stimme ruft laut:
›So wie du es errungen hast, so wirst du es verlieren.‹
Alther seufzt. Er weiß, es ist wahr.
Er kehrt allein in den Turm zurück, und während er darangeht, die Spuren von DomDaniels schwarzer Magie zu beseitigen, wird nicht weit im kleinen Zimmer einer armen Zaubererfamilie ein Kind geboren.
Es ist ihr siebter Sohn, und sein Name ist Silas Heap.«
Am Feuer folgte ein langes Schweigen, und Alther nahm langsam wieder seine eigene Gestalt an. Silas zitterte. So hatte er die Geschichte noch nie gehört.
»Es ist unglaublich, Alther«, flüsterte er mit heiserer Stimme, »ich hatte ja keine Ahnung. Wie ... woher wusste die Hexenmutter das alles?«
»Sie war unter den Zuschauern«, antwortete Alther. »Sie hat mich noch am selben Tag aufgesucht und mich dazu beglückwünscht, dass ich Außergewöhnlicher Zauberer geworden war, und ich habe ihr die Geschichte erzählt, so wie ich sie erlebt habe. Wenn du willst, dass die Wahrheit bekannt wird, brauchst du sie nur der Hexenmutter zu erzählen. Sie erzählt alles weiter. Ob man ihr glaubt, steht freilich auf einem anderen Blatt.«
Jenna zermarterte sich das Hirn. »Aber warum hast du DomDaniel überhaupt verfolgt, Onkel Alther?«
»Ah, gute Frage. Das habe ich der Hexenmutter nicht erzählt. Die dunklen Künste haben gewisse Seiten, über die man nicht leichtfertig sprechen sollte. Aber ihr solltet es erfahren, deshalb will ich es euch erzählen. Also, an jenem Morgen räumte ich wie jeden Tag die Bibliothek in der Pyramide auf. Es gehört zu den Aufgaben des Lehrlings, die Bibliothek in Ordnung zu halten, und ich nahm meine Pflichten ernst, auch wenn mein Meister ein unleidlicher Mensch war, aber das nur nebenbei. Jedenfalls fand ich an besagtem Morgen in einem Buch einen Zettel mit einem seltsamen Zauberspruch in DomDaniels Handschrift. Ich hatte zuvor schon einmal einen solchen Zettel herumliegen sehen, ihn aber nicht entziffern können, doch als ich mir diesen genauer ansah, kam mir eine Idee. Ich hielt ihn vor den Spiegel, und richtig: Der Zauberspruch war in Spiegelschrift geschrieben. Mir wurde mulmig zu Mute, denn mir war klar, dass es sich um einen Umkehrzauber handeln musste, der mit Kräften der dunklen Seite funktioniert, oder der anderen Seite, wie ich sie lieber nenne, da die andere Seite ja keineswegs immer nur schwarze Magie benutzt. Na, jedenfalls musste ich die Wahrheit über DomDaniel herausfinden und dahinter kommen, was er im Schilde führte, und so beschloss ich, das Wagnis einzugehen und den Zauberspruch zu lesen. Kaum hatte ich damit begonnen, da geschah etwas Schreckliches.«
»Was?«, hauchte Jenna.
»Hinter mir erschien ein Gespenst. Nun, zumindest konnte ich es im Spiegel sehen, doch als ich mich umdrehte, war es nicht mehr da. Aber ich konnte es spüren. Ich fühlte, wie es mir die Hand auf die Schulter legte, und dann vernahm ich seine Stimme. Sie klang hohl und sprach zu mir. Meine Zeit sei gekommen, sagte das Gespenst. Es sei hier, um mich wie vereinbart zu holen.«
Alther erschauderte bei der Erinnerung daran und griff an seine linke Schulter, wo die Hand des Gespensts gelegen hatte. Sie schmerzte vor Kälte, wie immer seit jenem Morgen.
Auch alle anderen erschauderten und rückten näher ans Feuer.
»Ich sagte dem Gespenst, dass ich nicht bereit sei. Noch nicht. Ich wusste nämlich, dass man sich der anderen Seite niemals verweigern darf. Aber sie warten gern. Zeit bedeutet ihnen nichts. Sie haben nichts anderes zu tun als zu warten. Das Gespenst sagte, es werde am nächsten Tag wiederkommen. Damit verschwand es. Als es fort war, machte ich mich daran, die Worte in Spiegelschrift zu lesen, und dabei stellte ich fest, dass DomDaniel mich an die andere Seite verschachert hatte. Ich sollte geholt werden, sobald ich die Zauberformel las. Das war der Beweis, dass er Umkehrmagie benutzte – das Spiegelbild der Magie, die Art, die den Menschen zum Verderben wird. Ich war ihm in die Falle gegangen.«
Das Lagerfeuer am Strand war heruntergebrannt, und alle drängten sich um die erlöschende Glut. Alther kam zum Ende seiner Geschichte.
»Plötzlich platzte DomDaniel in die Bibliothek und sah, dass ich die Formel las. Und dass ich trotzdem noch da war – dass ich nicht geholt worden war. Da begriff er, dass sein Spiel durchschaut war, und lief davon. Wie eine Spinne krabbelte er die Trittleiter hinauf, rannte oben auf den Regalen entlang und schlüpfte durch die Dachluke, die hinaus auf die Pyramide führte. Er lachte mich aus und forderte mich höhnisch auf, ihm zu folgen, wenn ich den Mut dazu hätte. Versteht ihr, er wusste, dass ich unter Höhenangst litt. Ich hatte keine Wahl, ich musste ihm nach.«
Keiner sprach ein Wort. Keiner, nicht einmal Marcia, kannte die ganze Geschichte.
Jenna brach das Schweigen. »Das ist ja schrecklich.« Sie erschauderte. »Ist das Gespenst wiedergekommen, um dich zu holen, Onkel Alther?«
»Nein, Prinzessin. Mit ein bisschen Unterstützung habe ich einen Gegenfluch gefunden. Dagegen war es machtlos.« Alther saß eine Weile nachdenklich da, dann fügte er hinzu: »Ich möchte nur, dass ihr alle eines wisst: Ich bin keineswegs stolz darauf, was ich auf dem Zaubererturm getan habe, auch wenn ich DomDaniel nicht in die Tiefe gestoßen habe. Für einen Lehrling ist es nämlich furchtbar, wenn er seinen Meister ablösen muss.«
»Aber du musstest es doch tun, Onkel Alther, oder etwa nicht?«, fragte Jenna.
»Ja, schon«, antwortete Alther ruhig. »Und wir werden es wieder tun müssen.«
»Und zwar noch heute Nacht«, erklärte Marcia. »Ich kehre auf der Stelle um und werfe den Schurken hochkant aus dem Turm. Der soll erleben, was es heißt, sich mit der Außergewöhnlichen Zauberin anzulegen.« Sie sprang auf, schlang sich den Umhang um und wandte sich zum Gehen.
Alther schnellte in die Höhe und fasste sie mit seiner Geisterhand am Arm. »Nein, Marcia. Nicht.«
»Aber Alther ...«, protestierte sie.
»Marcia, im Turm sind keine Zauberer mehr, die dir beistehen könnten, und wie ich höre, hast du Sally Mullin deinen Talisman gegeben. Ich flehe dich an, geh nicht. Es ist zu gefährlich. Du musst die Prinzessin in Sicherheit bringen. Und dafür sorgen, dass ihr nichts geschieht. Ich kehre in die Burg zurück und will sehen, was ich tun kann.«
Marcia sank in den nassen Sand. Sie wusste, dass Alther Recht hatte. Die letzten Flammen des Lagerfeuers erloschen zischend, als nasse große Schneeflocken fielen. Dunkelheit hüllte sie ein. Alther legte seine Geisterangelrute weg, stieg in die Luft und drehte über dem Deppen Ditch eine Runde. Er blickte über das Marschland, das sich bis zum Horizont erstreckte. Im Mondschein bot es einen friedlichen Anblick, ein ausgedehntes, mit Schnee bestäubtes Sumpfgebiet, aus dem da und dort kleine Inseln aufragten.
»Kanus«, sagte Alther und schwebte wieder zu Boden. »Als ich noch ein Knabe war, sind die Leute mit Kanus in den Marschen herumgefahren. Ihr werdet auch welche brauchen.«
»Das geht über meine Kräfte«, jammerte Marcia. »Ich bin viel zu erschöpft, um jetzt noch mit Booten herumzufuhrwerken.«
Silas sprang auf. »Los, Nicko«, sagte er. »Wir verwandeln die Muriel in ein paar Kanus.«
Die Muriel lag immer noch geduldig im Deppen Ditch, gleich hinter der Biegung, wo sie vom Fluss aus nicht zu sehen war. Nicko stimmte es traurig, dass ihr braves Boot geopfert werden sollte, doch er kannte die Gesetze der Magie und wusste nur zu gut, dass man durch Zauberei Materie weder zerstören noch erschaffen konnte. Also tröstete er sich mit dem Gedanken, dass die Muriel eigentlich gar nicht verschwinden, sondern nur in Form mehrerer Kanus neu zusammengesetzt werden würde.
»Kann ich ein schnelles haben, Dad?«, fragte er, als Silas die Muriel musterte und über einen geeigneten Zauberspruch nachsann.
»Ich weiß nicht, was ein »schnelles« ist, Nicko, ich bin froh, wenn es überhaupt schwimmt. Lass mich nachdenken. Vielleicht wäre ein Kanu für jeden nicht schlecht. Dann mal los. Verwandele dich in fünf! Oh, Mist!«
Fünf Muriels im Taschenformat schaukelten auf den Wellen.
»Dad«, jammerte Nicko, »du hast einen Fehler gemacht.«
»Eine Sekunde, Nicko. Mal überlegen. Jetzt hab ich’s. Kanu, erneuere dich!«
»Dad!«
Ein riesiges Kanu lag eingeklemmt zwischen den Ufern des Kanals.
»Gehen wir es mal logisch an«, brummelte Silas vor sich hin.
»Wie wär’s, wenn du einfach um fünf Kanus bittest?«, schlug Nicko vor.
»Gute Idee, mein Sohn. Aus dir wird doch noch ein Zauberer. Ich möchte Kanus für fünf zum Fahren!«
Der Zauber verpuffte, noch ehe er richtig begonnen hatte, und Silas saß mit ganzen zwei Kanus und einem Haufen Takelwerk und Holzplanken da, deren Farbe an die Muriel erinnerte.
»Nur zwei, Dad?«, fragte Nicko enttäuscht, weil er kein Kanu für sich allein bekam.
»Die müssen genügen«, erwiderte Silas. »Man kann Materie nicht häufiger als dreimal verwandeln, sonst wird sie mürbe.«
In Wahrheit war er froh, dass er überhaupt zwei Kanus zu Stande gebracht hatte.
Wenig später saß Nicko mit Jenna und Junge 412 in dem einen Kanu, das er Muriel eins getauft hatte, und Silas und Marcia zwängten sich in die Muriel zwei. Silas bestand darauf, vorn zu sitzen. »Ich kenne den Weg. Deshalb ist es vernünftiger.«
Marcia schnaubte ungläubig, wollte sich aber nicht aufregen. Sie war einfach zu müde.
»Los, Maxie«, befahl Silas dem Wolfshund. »Mach Platz bei Nicko.«
Doch Maxie hatte anderes im Sinn. Sein Lebenszweck bestand darin, bei seinem Herrn zu bleiben, und genau das wollte er tun. Er sprang Silas auf den Schoß, und das Kanu neigte sich bedenklich zur Seite.
»Kannst du nicht dafür sorgen, dass dein Hund keinen Unfug macht?«, fragte Marcia, die mit Bestürzung begriff, dass sie dem Wasser wieder fürchterlich nahe war.
»Natürlich kann ich. Er gehorcht mir aufs Wort, nicht wahr, Maxie?«
Nicko prustete.
»Leg dich nach hinten, Maxie«, befahl Silas dem Wolfshund streng. Geknickt sprang Maxie über Marcia hinweg ins Heck des Bootes und legte sich hinter ihr hin.
»Ich will ihn nicht hinter mir haben«, beschwerte sich Marcia.
»Aber neben mich kann er sich nicht setzen«, entgegnete Silas. »Ich muss mich darauf konzentrieren, wohin wir fahren.«
»Außerdem wird es höchste Zeit, dass ihr losfahrt«, sagte Alther, der nervös über ihnen schwebte. »Bevor es richtig zu schneien beginnt. Wie schade, dass ich nicht mitkommen kann.«
Alther stieg in die Höhe und sah zu, wie sie in den Deppen Ditch paddelten, der sich nun, bei einsetzender Flut, langsam wieder füllte. Jenna, Nicko und Junge 412 fuhren mit ihrem Kanu voran, Silas, Marcia und Maxie folgten im anderen.
Maxie saß aufrecht hinter Marcia und hechelte ihr aufgeregt seinen Hundeatem ins Genick. Er sog die neuen, feuchten Gerüche des Marschlands ein und lauschte den Geräuschen unterschiedlichster kleiner Tiere, die flink vor den Kanus flüchteten. Von Zeit zu Zeit überwältigte ihn die Erregung, und dann sabberte er fröhlich in Marcias Haar.
Bald erreichte Jenna einen schmalen Kanal, der vom Deppen Ditch abzweigte. Sie hielt an.
»Müssen wir hier abbiegen, Dad?«, rief sie nach hinten.
Silas blickte verwirrt. Er erinnerte sich überhaupt nicht an diese Stelle. Während er noch überlegte, ob er Ja oder Nein sagen sollte, riss ihn ein gellender Schrei Jennas aus seinen Gedanken.
Eine schleimige, schlammbraune Hand mit Schwimmhäuten zwischen den Fingern fasste aus dem Wasser und packte mit breiten schwarzen Krallen das Ende ihres Kanus.